Werden wir alle Nazis?

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Im August wurde ein Urteil von 2022 durch den obersten Gerichtshof bestätigt. Eine inzwischen 99 Jahre alte Frau hat zwischen 1943 und 1945 als Stenotypistin im NS-Konzentrationslager Stutthof gearbeitet und ist deswegen jetzt mitschuldig an dem Tod von 10.505 Menschen.

Die Frau muss also 1925 geboren sein. Als die Nazis 1933 die Macht übernahmen, war sie 8 Jahre. Als sie Ihren Beruf begann, war sie 18 und am Ende Ihrer Tätigkeit 20 Jahre alt. Im Prinzip stand ihr ganzen Leben unter dem Einfluss der Nazipropaganda. In der Schule, in der Ausbildung, im Umfeld und im Radio wurde das Nazi-sein gefeiert und hochgejubelt. Dieses Deutschland war für dieses junge Mädchen damals vollkommen normal und ihrer Realität. Und jetzt wird sie als Mittäter verurteilt? – Ich empfinde dieses Urteil als wirklich sehr schlimm.

Dieser Logik folgend hätte man tatsächlich alle Deutschen bereits in den Nachkriegsjahren hart bestrafen müssen. Also alle, die vor 45 geboren waren. Hat man aber nicht. Was will man mit solchen Verfahren beweisen und erreichen? Die Tagesschau schreibt dazu:

Wichtig ist ihnen, dass vor den Gerichten hier in Deutschland eine Aufarbeitung stattfindet.

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/verhandlung-stutthof-kz-106.html

Naja .. mag sein. Stellt sich aber eben auch die Frage: Alle Nazis gewesen und wie würden wir heute reagieren. Beziehungsweise wie werden wir reagieren? Und da möchte ich einfach mal an die Corona-Hoch-Zeit erinnern. Alle wollten nur aus dieser unangenehmen Zeit heraus. Lass Corona endlich vorbei sein und als der Staat dann die Lockerung der Maßnahmen an Corona-Impfungen gebunden hat, wurden wir alle sehr schnell zu ziemlichen Impf-Nazis.

Da wurde mal mehr und mal weniger sanfter Druck auf die Bevölkerung ausgeübt. Die nicht geimpften wurden in Ihrer Freiheit weiter eingeschränkt und gleichzeitig als Spinner abgestempelt. Null Tolleranz und wenig Verständnis für die Argumente und Ängste der Menschen die eben diese Impfung nicht wollten. Und ja, ganz sicher gab es Spinner darunter, aber viele Ängster waren sicherlich auch berechtigt und im Nachgang wissen wir ja auch das in den Corona-Jahren viele Fehler begangen wurden. Vom Staat und von uns Bürgern.

Ich halte mich für vollkommen tolerant und empathisch. Aber auch ich hab mich vom Konsens der Mitmenschen anstecken lassen und hab eben keinen Schritt zurück getan und meine Maxime aufrechterhalten: Tue nichts, was anderen Menschen schaden zu fügt.

Und was, wenn es in Zukunft zum guten Ton gehört, Ausländer aus dem Land zu verweisen? Erst nur die schlimmen und dann immer mehr? Es ist ein schleichender Prozess, der uns unterwandert und unser Denken ändert. Das passiert ständig und häufig und viel mehr als es uns überhaupt bewusst ist. Bei kleinen Dingen, wie z.B: „Was? Ich soll mehr als 1 Euro für mein Handy bezahlen?“ oder „Was? Ich soll Geld für Fernsehen ausgeben, was für ne Spinnerei!!“ bis eben dahin, dass man laut für Impfpflicht skandiert und kein Verständnis für die Rechte seiner Mitmenschen hat.

Wenn die AfD also mit der CDU gemeinsam regiert und der verbale Rechtsruck nach und nach in Gesetze gewandelt wird und damit einher auch ein gesellschaftlicher Wandel stattfindet, werden wir dann alle Nazis werden? Und kann man uns das dann später vorwerfen?

Ich hoffe ganz doll, dass diese Frage niemals jemand im Rückblick beantworten werden muss.

Host Schulte beackert das Thema auch irgendwie (https://horstschulte.com/2024/09/chrupallas-ss-eklat-bei-markus-lanz/) und es scheint bei nahe, als müsste er sich für seine Eltern-Generation schämen, da man davon ausgehen muss das bei „8,5 Millionen NSDAP-Parteigenossen“ auch in der eigenen Familie Nazis gewesen sind.

Und eben das sehe ich nichts so. Man kann die breite Masse nicht dafür verurteilen, dass sie im jeweiligen Zeitgeist gelebt haben – auch wenn es eine kleine Menge an anders denkenden gegeben hat, kann eben das nicht der Maßstab für eine Vorverurteilung sein. Im Detail muss man da sicher strenger sein, aber eine ganze Generation oder gar ein ganzes Land zu verurteilen, weil es war wie es war – das halte ich für zu viel.

Nochmal: Vor nur vier Jahren wäre alles möglich gewesen und morgen wird es das auch sein. Ist das scheiße? Ja. Ist das Feige? Sicher häufig auch. Wird es wieder passieren? Ja …. ganz bestimmt.


11 Antworten zu „Werden wir alle Nazis?“

  1. Avatar von Stephan

    Puh, einige Gedankengänge finde ich schwierig hier. Das Verurteilen einer ganzen Generation ohne die Möglichkeit in die Details zu schauen würde ich auch nicht unterschreiben; das passiert meines Erachtens aber auch nicht. Sondern es wurde eine KZ-Mitarbeiterin (!) verurteilt. Und das völlig zu Recht! Es gibt eben einmal (retrospektiv als ultrarechts zu bezeichnenden) Zeitgeist und es gibt systematischen Genozid. Bei letzterem zählt Umfeld, Heranwachsen und Sozialisierung nie. Selbst im Angesicht von Repressalien in einem Terrorstaat hat man eine Wahl und wenn man die falsche trifft, muss man sich früher oder später dafür verantworten.

    Wenn sich das von dir beschriebene Szenario bewahrheiten sollte, dann lautet die Antwort auf die Fragen

    – Sind wir alle dann Nazis? => Natürlich nicht
    – Kann man uns das später vorwerfen? => Der lauten und aktiven Minderheit natürlich, der duldenden Mehrheit nicht vor Gericht

    Für mich leitet sich daraus ein Imperativ ab, alles dafür zu tun, dass Fremdenhasser, Nationalisten und Misogynisten niemals an die Macht kommen. Am Ende des Tages geht es doch darum, ob man noch in den Spiegel blicken kann.

    1. Avatar von Alexander Thiel
      Alexander Thiel

      Leider hast du nicht versucht meine Gedankengänge nachzuvollziehen, sondern einfach den gemeinen Konsens draufgelegt und mir widersprochen.

      Auch ich werde das in meiner Machtstehende unternehmen, um solche Grausamkeiten zu verhindern. Aber ich bin eben das Produkt der Gesellschaft, die mich umgibt.

      Wie auch immer… ich schrieb es oben. Wir sind anderer Meinung.

      1. Avatar von Stephan

        Schade, dass wir da nicht in einen Dialog kommen–ich meine wirklich, deine Gedankengänge nachvollzogen zu haben. Ich lese deine Texte gern und spreche dir auch nicht im Mindesten ab, Grausamkeiten zu verhindern. Trotzdem bleibe ich dabei: Der Rundumschlag von verurteilter KZ-Mitarbeiterin zu allen Deutschen ist wild. Bin dir dankbar, deine Gedanken hier verschriftlicht zu haben.

        1. Avatar von Alexander Thiel
          Alexander Thiel

          Wild ist mein dritter Vorname …

          Stell dir vor, du bist in einer Welt aufgewachsen, in der alle Menschen um dich zu der Meinung ist: Tanzen ist Teufelszeug und wer tanzt, kommt in die Hölle. Und deswegen tanzt du nicht und verurteilst alle Menschen, die tanzen als Helfer des Teufels. Du weißt nicht, warum oder wieso. Es ist halt das, was die beigebracht wurde und es ist für dich der normale Zustand.

          Kannst du dir vorstellen?

          1. Avatar von Stephan

            Ist mir völlig klar. Und ich stimme dir in Teilen zu. Wir werden uns noch umgucken, was zukünftige Menschen uns alles für Irrungen und Wirrungen vorwerfen; das gehört dazu. Und sicher, wir sind ein Produkt unserer Umstände und Gesellschaft und andersherum.

            Zusätzlich sage ich: In einem KZ zu arbeiten oder NSDAP-Mitglied zu sein, war eben keine gesellschaftliche Unausweichlichkeit und ist den Menschen absolut vorzuwerfen. Ich gründe mein rigoroses Argumentieren vor allem auf meinen Besuchen im NS-Doku-Zentrum in Köln und im KZ Buchenwald, wo sehr eindrücklich nachgezeichnet ist, dass Menschen in vollständigem Unrechtsbewusstsein gehandelt haben. Sie haben Tanzende nicht verteufelt weil das Zeitgeist und damit richtig war, sondern sie haben Tanzende wider besseren Wissens verteufelt, weil sie widerwärtige Bastarde waren.

            Und das bringt mich zum Problem, den ich mit deinem Artikel hier habe: Er verwässert die Grenze zwischen Tätern und indoktrinierten Mitlaufenden und stellt eine rhetorische Frage, bei der ich mir vorstellen kann, dass sie zu einer Enttabuisierung führt und damit am Ende nur den Falschen nützt.

          2. Avatar von Alexander Thiel
            Alexander Thiel

            Mag sein das ich das ein wenig verwässere. Aber ich gehe davon aus, dass jedem intelligenten Menschen klar ist, dass es immer diverse Grautöne gibt und dachte nicht das ich das erwähnen muss.

            Viel wichtiger ist mir der Punkt: Die Gefahr ist groß, dass wir unser Denken wandeln, ohne es wirklich zu merken und dann eben doch Dinge befürworten, die wir vorher für nicht möglich gehalten haben.

  2. Avatar von Peter Lohren

    Viele Politiker machten nach der „Entnazifizierung“ in der Bundesrepublik eine steile Karriere. Nicht zu vergessen der Verfassungsschutz, der seinerzeit zum großen Teil aus Altnazis bestand.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_ehemaliger_NSDAP-Mitglieder,_die_nach_Mai_1945_politisch_tätig_waren#Deutschland

    1. Avatar von Alexander Thiel
      Alexander Thiel

      Ja natürilich…

  3. Avatar von Holger

    Schwierig. Ja, man wächst in einem Umfeld auf und dieses ist das eigene „Normal“. Aber in einem KZ die Toten zählen, die Tötung von Menschen hinnehmen/ protokieren, weil andere das sagen? Wie gesagt: Schwierig (Ich hätte die alte Dame aus anderen Gründen freigesprochen…).
    Übrigens: Als Hitler geboren wurde, ging Adenauer aufs Gymnasium…

    1. Avatar von Alexander Thiel
      Alexander Thiel

      Wie viele haben IMPFPFLICHT geschrien und hätten das am liebsten unter Androhung von Strafe durchgesetzt, nur um wieder beim Griechen in geselliger Runde einen Ouzo trinken zu können?

  4. Avatar von Horst Schulte

    Keiner kann niemand seine Vergangenheit abstreifen. Das trifft auch für die alte Frau, die jetzt im Namen „der Gerechtigkeit“ im hohen Alter wegen ihrer Beteiligung am Holocaust, verurteilt wurde, zu.

    Deine Beschreibung trifft vielleicht für die meisten vergleichbaren Fällen zu. Wir sind leicht zu indoktrinieren. Ein moralischer Zeigefinger ist schnell erhoben.

    Ja, der Holocaust war ein einzigartig, und ich finde, die Aufarbeitung wurde nicht vernachlässigt. Das war gut und das ist gut. Wir müssen die Erinnerung an diesen Zivilisationsbruch wachhalten. Dass er ausgerechnet von unserem Land ausging, beschäftigt auch noch die Generationen nach uns. Das ist richtig.

    Ich finde allerdings, diese alten Menschen sollten nicht mehr belangt werden. Dass übrigens gerade aus die deutsche Justiz, deren damalige Protagonisten nach 1945 für ihre Mittäterschaft kaum belangt wurde (Freisler und wenige andere einmal ausgenommen), bei diesen Prozessen naturgemäß eine Rolle spielt, ist ein unappetitlicher Aspekt.

    Tatsächlich habe ich deinen Artikel über den Titel bei UberBlogr gefunden und erst beim Lesen entdeckt, dass du meinen Artikel verlinkt hast. Vielen Dank dafür. Die Pings funktionieren schon lange nicht mehr und ich kriege das nicht hingebogen. 🙂