Aktuelle Geschehnisse bewegen mich dazu, das Leben meiner Mutter in groben Abschnitten niederzuschreiben.
Die Alliierten waren gerade über den Rhein gekommen, als meine Mutter im März 1945 geboren wurde. Mein Opa ist verletzt aus dem Krieg nach Hause gekommen und hat erstmal ein Kind gezeugt. Kann man so machen, gut für mich.
Mit 14 begann sie eine Ausbildung zur Verkäuferin in der Kreisstadt Westerstede. Wenn Sie nach Feierabend nach Hause kam, wollte Sie mit Ihren kleinen Schwestern im Sandkasten spielen. Durfte das aber nicht, Vater rief sie herein. Damals war es üblich, dass die Geschäfte Mittags für 3 Stunden geschlossen hatten. Sie musste die Zeit dann draußen verbringen. Manchmal durfte sie mit zu einer Kollegin nach Hause, manchmal durfte sie vor einem Kaffee sitzen. Das Geld reichte mit Sicherheit nicht, um dort was zu essen.
Meine Mutter hat mit 19 das erste Kind bekommen, mit Ihrem ersten Mann. Der war (nach Ihrer Aussage) ein Trinker, aber sehr, sehr gut aussehend. Wenn ich es richtig verstanden habe, war die Entjungferung auch die Zeugung. Ein Schuss, ein Treffer.
Als meine Mutter dann mit dem zweiten Kind schwanger war, verließ sie ihren Mann und der verließ auch den Wohnort meiner Mutter. Interesse für die Kinder gab es wohl nicht. Wir befinden uns Ende der 60er Jahre. Während andere bekifft als Blumenkinder auf irgendwelche Wiesen herumlungerten oder gegen den Krieg demonstrierten, zog meine Mutter mit ihren beiden Töchtern in das Obergeschoss Ihres Elternhauses. Als geschiedene Frau! Auf dem Dorf! 60er Jahre!
Sie lernte einen jungen Mann aus der Nachbarschaft kennen und hatte eine Romanze mit ihm. Er war Hippie und später Anhänger einer Sekte (Bhagwan). Meine Mutter merkte wohl schnell, dass dieser Mann kein geeignetes Familienoberhaupt war und schnappte sich den großen Bruder.
Mit diesem zog sie nach Bremen und von dort nach Emden und von dort nach Remels. Mit diesem bekam sie zwei weitere Kinder (inklusive mir). Mit meinem Vater lebte Sie wohl das klassische West-Deutsche-Familien-Konzept dieser Zeit. Mein Vater ging arbeiten (in Emden, war früh aus dem Haus und spät daheim), war zu Hause viel handwerklich aktiv (sonst hätte man sich das Haus nicht leisten können). War aber auch aktiver Tischtennisspieler und Sänger im Chor. Meine Mutter war für Haushalt und Kindererziehung zuständig. Mein Vater teilte Ihr Haushaltsgeld ein und erlaubte nicht, dass meine Mutter einen Führerschein machte. Einkäufe mussten also an Samstagen mit Vater erfolgen oder mit dem Fahrrad. Was, meiner Meinung nach, in dem großen Dorf, in dem wir lebten, kein Problem gewesen ist.
Es muss Weihnachten 1983 gewesen sein (bin mir nicht sicher), da klingelte es unten an der Tür und ein betrunkener Mann stand da. Meine Eltern hatten den Bengel (er ist nur 4 Jahre älter als meine älteste Schwester) auf einem Weihnachtsball in der örtlichen Gaststätte kennengelernt und aus irgendeinem Grund stand er vor der Tür.
Die nächste Erinnerung ist, dass dieser Mann nackig durch unser Haus rannte. Mein Vater war (wohl absichtlich) früher aus der Firma gekommen und hat die beiden erwischt. Jemand muss ihm gesteckt haben, dass seine Frau ihn betrügt.
Ich war fünf Jahre alt, als meine Eltern sich trennten. Wir zogen aus. Erst in eine Wohnung, dann gemeinsam mit meinem Stiefvater weiter raus aufs Land. Meine Mutter bekam ihren Führerschein, weil jetzt war es nicht mehr möglich überhaupt irgendwas zu besorgen … ohne Auto.
Der 16 Jahre jüngere Mann sorgte jetzt für die Familie. Na ja, in Teilen – in den ersten Jahren zahlte mein Vater natürlich Alimente für vier Kinder und meine Mutter. Dann heirateten die beiden und die Kohle gab es nur noch für meine ältere Schwester und mich. Die großen waren bereits ausgeflogen. Das Verhältnis zum Stiefvater (wie zu erwarten) war nicht gut.
1989 verstarb mein Vater plötzlich. Wir lösten den Haushalt auf, verkauften das vollkommen verschuldete Haus und erhielten Halbwaisenrente.
Aber das nur am Rande. Weiter mit meiner Mutter. Nach der ersten Verliebt-sein-Phase folgten viele Jahre des Streites. Er wollte die jüngeren Kinder mit erziehen, aber durfte nicht. Er wollte Entscheidungen treffen, aber durfte nicht. Es gab eigentlich um alles Streit. Immer. Meine Mutter war weiter Hausfrau und Mutter und jetzt eben auch Hausherrin. Die Liebe meines Stiefvaters war so groß, dass er nicht ging. Vielleicht fühlte er sich auch ein wenig verantwortlich, weil er eine Familie zerstört hatte. Vielleicht hatte er aber auch ein Mutterkomplex. Wer weiß es denn schon.
Gut lief es eigentlich nur dann, wenn die beiden gemeinsame Projekt hatten. Ein Haus kaufen und renovieren, ein Haus bauen, den Garten von links auf rechts krempeln, das Haus renovieren, das Haus verkaufen und ein neues kaufen. Auch das verkaufen und ein neues bauen. Mutter teilt ihre Wünsche mit und Stepdad setzt diese um. So gut er kann.
So kann man auch 40 Jahre herumkriegen. Das sind natürlich nur die ganz groben Eckpunkte eines langen Lebens. Es gibt sicher noch viele Geschichten zu erzählen und viele Details. Aber zum Erinnern soll das hier erstmal reichen.
Keine Angst, meine Mutter ist nicht gestorben. In wenigen Tagen wird meine Mutter 79 Jahre. Körperlich fit, baut der Geist leider immer weiter ab. Die starke und streitbare Frau von früher ist gegangen. Mein Stiefvater kümmert sich, um alles, was nichts mit dem Haushalt zu tun hat. Sachen, die er früher nicht getan hat. Bankgeschäfte, Versicherungen, Weihnachtskarten schreiben, einkaufen. Und meine Mutter kocht und putzt. Das sind Dinge, die aus dem Muskelgedächtnis kommen und scheinbar einfach so passieren.
Meine Mutter ist in dem Alter, in dem wir ihre Mutter mit starker Demenz ins Pflegeheim gebracht haben. Meine Mutter hat Angst, so alt wie Oma Klara zu werden. Vor allem, weil sie glaub das sie auch Jahre in absoluter Geistlosigkeit dahin vegetieren wird.
Wie kurz wird das letzte Kapitel des Lebens meiner Mutter also sein?
2 Antworten zu „Mutter“
Das Leben ist erst mit dem Tod vollendet.
[…] Ja vielleicht. Aber wenn man sich den Lebenslauf so anschaut, dann ist es ja wirklich so. Viele werden jetzt vermutlich aufschreien und von der […]